Praxisfälle

Fall 1:

Überraschende Wendung

Zu Beginn sieht es ganz und gar nicht nach einem Einvernehmen aus: Jenny und Tobias haben sich getrennt und vor dem Familiengericht laufen bereits mehrere Verfahren um die kleine Tochter Jeanette, das Umgangsrecht, den Unterhalt und ein Eilverfahren dazu; auch um Unterhalt für Jenny, der Mutter von Jeanette, wird gestritten. Ein Gerichtstermin steht unmittelbar bevor.

In dieser Situation trifft sich Tobias mit einem Anwalt der kooperativen Praxis, um einen anderen Weg zu suchen. Das Mandat mit seiner bisherigen Anwältin hat er beendet. Sein größter Wunsch wäre, Jenny würde die Anträge bei Gericht durch ihre Anwältin zurücknehmen. Doch dazu besteht gegenwärtig wenig Hoffnung, denn Tobias kann sich eine friedliche Lösung mit Jenny nicht vorstellen. Die beiden sind nicht miteinander verheiratet. Sie haben nur kurz zusammengewohnt und sich fast immer nur gestritten, erzählt er. „Gab es nicht auch mal gute Zeiten?“, fragt der Anwalt “Doch, ungefähr vier Wochen..“. Tobias ist Freischaffender. Sein Geschäft läuft mäßig zur Zeit. Eigentlich verdient er kaum etwas, sagt er, und er müsse mit von seinem Ersparten leben. Das Gerichtsverfahren beunruhigt ihn. „Ob sie mich dazu bringen können, dass ich auch noch das Ersparte hergeben muss?“, sorgt er sich. „Und es wäre doch nicht nötig gewesen, dass sie zum Gericht geht!“, fährt er fort. „Doch mit ihr reden? – nein, völlig zwecklos, – mit ihr kann man nicht reden!“

Der Anwalt erklärt Tobias nun, was kooperative Praxis bedeutet und wie sie abläuft. Tobias gefällt die Idee, sich ohne Gericht zu einigen, doch er ist überzeugt, dafür sei es bei ihm zu spät. Als der Anwalt erfährt, dass die Kollegin, die Jenny vertritt, auch Mediatorin ist, beschließt er, da er sie nicht kennt, sie anzurufen, um ihr das Konzept der kooperativen Praxis zu erläutern. Sie hat davon noch nicht gehört, erklärt sich jedoch bereit, es nach dem Gerichtstermin damit einmal zu versuchen. Bei dem Termin wird eine Vertagung der Verfahren beschlossen.

Der Anwalt bespricht mit Tobias die nächsten Schritte: Tobias erklärt dabei, dass er bereit wäre, für sein Kind und vielleicht auch für Jenny vorübergehend Unterhalt aus seinen Ersparnissen – es handelte sich um eine größerer Erbschaft – zu zahlen, da Jenny arbeitslos ist und die Beiden derzeit so gut wie nichts zum Leben haben. Der Anwalt begrüßt das, rät ihm aber, diese Karte nicht einfach wegzugeben sondern in der Verhandlung sinnvoll, „strategisch“ einzusetzen. Die Bereitschaft zur Kooperation bedeute zwar auch eine Bereitschaft zur Vorleistung. Doch Kooperation könne es immer nur auf Gegenseitigkeit geben.

Der Anwalt entwirft mit Tobias eine Tagesordnung der Punkte, über die gesprochen werden soll, schickt sie an Jennys Anwältin und lädt beide zu einem Vierer-Gespräch ein. Sie nehmen Tagesordnung und Einladung an. Die Atmosphäre beim ersten Treffen ist erwartungsvoll, aber entspannt. Nach der Tagesordnung soll zunächst versucht werden, die rechtlichen Themen abzuarbeiten, um danach über persönliche und emotionale Hintergründe zu sprechen. Die finanziellen Verhandlungen – Unterhalt für die Tochter Jeanette und Jenny – verlaufen überraschend leicht, nachdem Tobias seine Bereitschaft signalisiert hat, hierfür auch den Topf der Ersparnisse anzugreifen, bis er wieder besser verdiene. Jenny reagiert auf dieses Angebot mit der Erklärung, dass sie keine überzogenen Forderungen stellen, sondern nur normal und bescheiden leben wolle. Das hatte sich im Gerichtsverfahren zuvor noch anders dargestellt, wo die Forderungen ausgereizt wurden und mit Zwangsmaßnahmen gedroht wurde… Unterhaltszahlungen, Unterstützung in besonderen Notfällen, Umgang von Tobias mit Jeanette, gemeinsame Suche einer kostengünstigeren Wohnung für Jenny, – alle Punkte werden nun in einem offenen, fast freundschaftlichen Ton verhandelt und erledigt. Eine viertel Stunde vor dem Ende der vereinbarten Zeit scheint alles in trockenen Tüchern; die vereinbarten Punkte wollen die Anwälte später noch schriftlich fixieren.

„Nun haben wir noch ein bisschen Zeit für etwas anderes“, sagt der Anwalt von Tobias, – nun in der Rolle des Mediators. „Mich würden einmal die Hintergründe ein wenig interessieren… Wären Sie bereit, darüber zu sprechen? Es geht ja nicht nur darum, ein Papier zu unterschreiben sondern auch darum, dass es Ihnen weiter gut damit geht, und Sie in Zukunft Missverständnisse und Streit, die zum Scheitern Ihrer Beziehung geführt haben, vermeiden.“ Beide nicken. Er wendet sich Tobias zu: „Tobias, sagen Sie mal: Wie war das für Sie, als Sie auseinandergingen?“ Er schluckt – und nach eine Pause: „Es war… für mich… eine Tragödie“. – Ihm laufen die Tränen. Er erzählt nun, wie alles gekommen ist, wie sie sich immer gestritten haben, und er das eigentlich gar nicht wollte. Dann wird es ganz ruhig im Raum. Schließlich wendet sich Jenny Tobias‘ Anwalt zu und sagt: „Jetzt wollen Sie mich bestimmt das Gleiche fragen…?“ Ja,“ sagt der, „ich frage Sie jetzt das Gleiche: Wie war das für Sie, als Sie auseinandergingen?“ „Es war schrecklich. Weil ich mir immer gewünscht habe, dass mir das nie passieren sollte. Mein Vater hat sich vom Acker gemacht, als ich noch ganz klein war. Ich hab ihn nie kennengelernt, er lebt in Frankreich.“ Auch ihr kommen jetzt die Tränen.

Dies scheint nun fast ein Happy-End, da sich bei Beiden durch ihre Tränen etwas aufgelöst hatte. Doch Tobias Anwalt fragt Jenny weiter (wie er zuvor auch schon bei Tobias nachgefragt hat): „Was glauben Sie, was Sie in Zukunft anders machen könnten?“ „Ich will im Guten mit ihm umgehen, konstruktiv“. „Was heißt das für Sie ‚gut’ und ‚konstruktiv’?“ „Ja, dass wir uns nicht mehr streiten.“ „Aber wie soll das plötzlich gehen, wo Sie das bisher nicht geschafft haben?“ „Ja schon, das lag an ihm, er hat mich einfach wütend gemacht!“ „Womit?“ „Er hat so eine Art, völlig unberechenbar, behauptet irgendwas, rastet aus und so…“ „Und wie wollen Sie damit umgehen in Zukunft?“ “Na…..“ (sie denkt nach), – „vielleicht, dass ich das alles nicht so ernst und wichtig nehme… Er ist halt so, und es bedeutet nichts wirklich Schlimmes…“ „Gut“, sagt der Anwalt, „das könnte wirklich etwas ändern…“

Die Zeit ist fast um. Jenny schiebt nun ein Papier zu Tobias hin mit den Worten: „Bitte unterschreib mir das jetzt! Es geht um das einbehaltene Geld der Stadt für Jeanette, damit das mir jetzt ausgezahlt werden kann.“ „Was?!“ Tobias wird blass und laut: „Schon wieder willst du Geld. Du willst immer nur Geld! War das jetzt nicht genug!?“ Er ist wütend und im Begriff aufzustehen und den Raum zu verlassen. Der Anwalt von Tobias, der hier den Mediationsteil übernommen hatte, wendet sich Jenny zu und sagt: „Sehen Sie, nun haben Sie so eine Situation wie die, von der Sie vorhin gesprochen und mir erklärt haben, wie Sie künftig anders damit umgehen wollten. Man könnte sich jetzt vorstellen, wie das weitergeht, und Sie wären wieder genau da, wo Sie früher waren… Sie haben gesagt, Sie wollten das nicht so ernst nehmen…“ „Ja, stimmt, ich weiß nicht, warum er jetzt so wütend ist, es ist vielleicht eine alte Sache, hat aber nichts damit zu tun, dass wir jetzt darüber reden, wie dieses Geld, das dort festliegt, endlich ausgezahlt wird. Und ich brauche es, ich habe Schulden gemacht die letzte Zeit, weil ich nichts hatte.“ Die beiden reden nun wieder direkt miteinander über die eigentliche Sache, die Wogen glätten sich, und am Ende unterschreibt Tobias, wenn auch immer noch ein wenig unwillig das Papier.

Damit endet diese gemeinsame Sitzung mit nur wenig Zeitüberziehung, und es erweist sich später, dass alle Vereinbarungen halten. Zwar kommen bei Tobias immer wieder einmal Gefühle von Misstrauen, des Zweifels und auch der Wut hoch auf Jenny und die Situation, wobei alles Vereinbarte zu zerbrechen droht. Doch dann ruft seinen Anwalt an und man klärt die Sache telefonisch oder in einem gemeinsamen Gespräch, wie der Weg der Kooperation weiter zu gehen ist.

Mit beiden Anwälten haben die Parteien ein vertrauensvolles Verhältnis aufgebaut. Die Anwälte wissen so aus erster Hand, dass die angewandte kooperative Praxis eine wirkliche und dauerhafte Wende herbeigeführt hat. Für alles hat es nur eine einzige gemeinsame Sitzung gebraucht. Geschrieben wurde wenig, die Kommunikation verlief fast ausschließlich mündlich und direkt. Unmittelbar nach der Einigung im gemeinsamen Gespräch hat Jennys Anwältin sämtliche gerichtlichen Anträge zurückgenommen, und auch das Gerichtsverfahren war damit erledigt.

Kommentar:

Ein Schlüssel, der der die Wendung zur Kooperation ermöglichte, war in diesem Fall, mit Tobias über seinen freiwilligen finanziellen Spielraum zu sprechen. Nach seiner Schilderung war klar, dass Jenny und das Kind finanziell äußerst knapp lebten. Daraus ergab sich der besondere Druck, der Jenny schließlich zum Gericht führte. Tobias verdiente zwar aktuell nicht viel, aber es ging ihm finanziell nicht ganz so schlecht, da er ja über Kapital verfügte. Er wollte es bloß nicht dem Streit opfern, da er fürchtete, nichts dafür zu bekommen. Es bot sich hier also an, das Kapital als strategisch und dosiert eingesetzte „Spielmarke“ für eine Kooperation zu nutzen.

Als Zweites war es wichtig, den emotionalen Hintergrund des Paarkonflikts in die Gespräche einzubeziehen, da von diesem Konflikt immer wieder unkontrollierte Ausbrüche zu befürchten waren, die sachliche Vereinbarungen zwischen den Beiden zunichte machen könnten. Die offene Frage an Tobias: „Wie ging es Ihnen mit der Trennung?“ gab diesem die Freiheit, seine Gefühle für sich zu behalten. Er öffnete sich aber, was Jenny anschließend ermutigte, es ebenso zu tun. Das allein wäre jedoch zu wenig gewesen.

Da Mediation keine Therapie ist mit dem Ziel, dass sich einer „besser fühlt“, sondern die Emotionen immer in ihrem Zusammenhang mit einer konkreten Konfliktsituation betrachtet werden, versuchte der Mediator hier, mit der Öffnung der Beiden gleich einen Schritt weiter zu gehen. Tränen allein mögen Erleichterung schaffen. Die Frage aber, was könnten sie tun, damit ihr Bedauern über die Trennung ihnen auch eine Erkenntnis gibt, es in Zukunft anders zu machen?, ging darüber hinaus und bereitete den Boden dafür, dass sie unabhängig von äußerer Hilfe ihre Schwierigkeiten alleine lösen würden.

Weitere Fallbeispiele werden folgen. Als nächstes werden hier Mandanten über ihre Erfahrung mit der kooperativen Praxis in ihrem Fall berichten …

Claudia B. aus dem Taunus schreibt über ihre Erfahrung mit der kooperativen Praxis:

Blickwinkeländerung

Mein Mann und ich hatten uns nach 19 Jahren Ehe auseinander gelebt. Wir stritten uns nicht, führten keinen Krieg miteinander, waren aber sprachlos und „engsichtig“geworden; vor allem ich hatte nie gelernt zu kommunizieren. Ich besaß wenig Selbstbewusstsein, war überzeugt, dass mir aufgrund meiner jahrelangen Nicht-Berufstätigkeit kaum etwas von unserem Vermögen zustehen dürfe.

Da wir uns in Frieden trennen wollten, aber die „Knoten“, die sich im „Strickmuster“ unserer Ehe gebildet hatten, nicht alleine lösen konnten, wählten wir die KOOPERATIVE PRAXIS als Scheidungsweg. Das bedeutete, ich bekam eine Rechtsanwältin an meine Seite gestellt und mein Mann einen Rechtsanwalt, die uns- individuell – in den rechtlichen Belangen berieten. Unsere Trennung und Scheidung bearbeiteten wir, indem wir uns mehrere Male zu Viert zusammen setzten und gemeinsam versuchten, im Dialog eine Klärung und Lösung zu finden und letztendlich eine Vereinbarung zu treffen, die für beide Seiten fair und akzeptabel war. Unsere Anwälte brachten uns auf kompetente und hochsensible Weise dazu, uns zu öffnen, im geschützten Rahmen unsere Wünsche und Forderungen zu stellen und uns vor allem auch mal in die Lage des Anderen zu versetzen. Sie halfen mir, aus meiner Sprachlosigkeit und Gehemmtheit herauszukommen, mein Selbstbewusstsein auszubauen und für das, was mir zustand, einzutreten. Mein Mann erhielt die Möglichkeit, mich bzw. meine Tätigkeit als Hausfrau aus einer anderen Perspektive heraus zu betrachten.

Unsere Rechtsanwälte begleiteten uns aber nur, gaben uns Denkanstöße, waren Vermittler, übertrugen jedoch uns als Paar die Verantwortung, ließen uns am Ende eine für uns beide akzeptable Lösung treffen.

Ich bin von dieser „Scheidung per Dialog“ so überzeugt, dass es mir am Herzen liegt, sie auch vielen anderen Paaren offenkundig zu machen.

Es ist eine Form der „eigenverantwortlichen“ Scheidung, bei der man die Möglichkeit oder Anleitung erhält, den Partner aus einem anderen Blickwinkel heraus zu betrachten, so die „Knoten“ der „verstrickten“ Ehe schonend aufzulösen, in friedlicher Weise zu kooperieren und eine für beide Parteien passende Einigung zu finden. Das Ganze ist so wertvoll und nachhaltig, weil man sensibilisiert wird, in allen anderen Lebensbereichen und Situationen auch den Blickwinkel zu wechseln, und weil man ein hervorragendes Beispiel für seine Kinder darstellt: man lebt ihnen vor, dass man konstruktiv Konflikte bewältigen kann und so eine gesunde Basis für ein friedliches Nachher, eine neue Beziehung und den weiteren Lebensweg schafft.

Kommentar:

Die Eheleute B. waren eine der ersten Mandanten der kooperativen Praxis. In diesen „Pioniertagen“ unserer Arbeit vor ca. drei Jahren wurde vielen die Rollen der Anwälte, die zugleich Mediatoren waren, noch nicht ganz deutlich. So hebt auch Frau B. in ihrem Bericht die Erfahrung der Mediation als das entscheidende Erlebnis hervor. Tatsächlich sind in der kooperativen Praxis aber nicht die Mediation sondern die jeweiligen Anwaltsmandate die Basis des Auftrags. Der Auftrag lautet, die Anwaltsmandate mit dem Ziel einer Kooperation auszuüben. Hierüber wird eine besondere Vereinbarung geschlossen. Die Mediation im Rahmen dieser Vereinbarung ist eine zusätzliche Methodik, mit der die Anwälte über die Rechtslösungen hinaus eine Verständigung oder sogar eine Aussöhnung der Konfliktparteien erreichen können.